Kommentar zu Christian Füller: „Sündenfall. Wie die Reformschule ihre Ideale missbrauchte“

Christian Füller: „Sündenfall. Wie die Reformschule ihre Ideale missbrauchte“, DuMont-Verlag Köln, 2011

Erving Goffman, ein amerikanischer Soziologe, beschrieb bereits in den 1970er Jahren „Totale Institutionen“ mit den Merkmalen von zentraler Autorität, der Unterscheidung zwischen formellen Zielen und informellen Gegebenheiten sowie beständiger Überwachung, um die offiziellen Ziele zu erreichen. - Er sprach damals von Gefängnissen, Klöstern, Schiffsbesatzungen, Psychiatrien, aber auch von Heimen jeglicher Art.

Die Odenwaldschule war ein Internat im Sinne einer „totalen Institution“ als Gerold Becker von 1969 bis 1985 dort als Leiter tätig war. Er hat – so die Meinung von unabhängigen Kommissionen – ein System zum pädophilen Missbrauch von kleinen Jungen aufgebaut, an dem mehrere Lehrer und auch auswärtige Gäste aktiv beteiligt waren.

SPRECHER: Die Odenwaldschule soll „nicht eine von Erwachsenen gemachte Organisation, sondern ein gemeinsam gestalteter Lebensraum werden....sie fußt auf der Idee, das Leben der Schüler auch außerhalb des Unterrichts zu gestalten...Der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen wurde aufgehoben...der hierarchisch organisierte Massenschule, die auf Zwang und Gehorsam fußte, (wurde) die Idee einer auf die Bedürfnisse des Einzelnen zugeschnittenen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft (entgegengesetzt).“

In den sogenannten „Familien“ lebten acht bis zehn Kinder mit ihren Lehrern eng zusammen. Niemandem fiel in 15  Jahren auf, dass bei den pädophilen Haupttätern nur kleine Jungen rekrutiert wurden. So entstanden geschlossene Kosmen, ähnlich wie in normalen Familien, in denen immer noch am häufigsten sexueller Missbrauch stattfindet. Kosmen geprägt von „sekundärer Anpassung, Konservieren, Kolonisierung und Loyalitäten“, wie Goffman es beschreibt, die dazu führten, dass dieses mafiose System Jahrzehntelang geschlossen blieb.

Der Begriff „Kolonisierung“ meint, dass alle nur die offizielle Lesart für die Wahrheit hielten. Das hieß, es galt als normal, dass der Schulleiter, der bekanntermaßen homosexuell war, keine eigene Dusche hatte, sondern täglich mit den Jungen gemeinsam duschte. Dass diese sich bei ihm Alkohol und Drogen nehmen durften und manche Jungen so gut wie nie mehr im Unterricht erschienen. Die Lesart war: Alles o.k., alles normal, alles wie immer!

Die schizophrene Situation, dass ihr Leiter einerseits extrem geliebt und gleichzeitig ein pädophiler Serientäter war, geht so weit, dass Becker in seiner Laudatio auf Astrid Lindgren, die 1978 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt, vor der gesamten intellektuellen Elite folgendes öffentlich äußerte:

SPRECHER:  Die Psychoanalyse zeige, „wie im strengsten Sinne lebensentscheidend es ist, dass ein Mensch, aufwachsend lernt, in einem entspannten, aber nicht spannungslosen Gleichgewicht zwischen den Ansprüchen seiner Triebe und den Ansprüchen der Realität zu leben“, denn man solle „sich und seine Sexualität ernst“ nehmen.

Im Grund hieß dies, Gerold Becker liefert die Theorie für seine kriminellen Taten, und keiner bemerkt es!

Der Journalist Christian Füller beschreibt zwei Skandale: Den quasi institutionellen, fortwährenden Missbrauch von Schülern durch ihren Schulleiter und etliche Lehrer. Dadurch gefördert auch die Gewalt und die sexuellen Übergriffe von Schülern untereinander. Dies passierte 130 bisher bekannten Opfern, deren Gesundheit zerstört, die drogenabhängig oder mit 14 Jahren zu Alkoholikern wurden, die sich suizidierten und deren psychisches Leid bis heute anhält.

Doch der zweite Skandal ist im Grunde unfassbarer: Es ist der des penetranten Wegsehens in der Lehrerschaft, bei Eltern sowie bei den profiliertesten Pädagogen dieser Zeit, bei Hartmut v. Henting, dem Leiter der berühmten Bielefelder Laborschule und Lebensgefährten von Gerold Becker sowie durch  Hellmut Becker, dem Chef des pädagogischen Max-Planck-Institutes, die beide das System stützten und die Verbrechen bis heute leugnen, so der Autor Christian Füller.

Auch hat ein Teil  unserer politischen Elite weg gesehen. Einzelne haben zwar schleunigst ihre Kinder von diesem Prestige-Internat herunter genommen, ohne jedoch Aufklärungsarbeit zu leisten. Hauptsache, das eigene Kind bleibt verschont, die anderen können ja gerne weiter gemartert werden!

Pädagogisch gerechtfertigt wird dieses Thema von etlichen mit dem „pädagogischen Eros“ , welches Stefan George im frühen 20.Jahrhundert formulierte, der ein neues Griechentum mit dem Credo begründen wollte:  „Der Leib sei der Gott“. Seine Anhänger pflegen eine „aristokratische Androkratie“.

SPRECHER:
 „Doch ging es nicht um Knabenliebe in seiner ästhetisch sublimierten Form, sondern um ein reales asymmetrisches Gewaltverhältnis zwischen einem Mann und einem Jungen, das sexuell ausgebeutet wird“, so Christian Füller als Fazit.

Die Reformschulen waren 1910 gegründet worden, um die Unverletzbarkeit der Kinder zu wahren. Sie distanzierten sich nach 1945 ausdrücklich von der faschistischen Doktrin und verfochten eine Erziehung zur Mündigkeit. Das Credo war: „Nie wieder Wegsehen, Nicht-wahrhaben-Wollen, zum Komplizen werden!“ Doch die sexuellen Grausamkeiten sind vor den Augen der Lehrerinnen und Lehrer, der gesamten Schulgemeinde und mit Dutzenden von Hinweisen an Eltern sowie an die großen Pädagogen unserer Republik geschehen.

Der Grund: Die sogenannte „Täterlobby“. Sie verteidigte die Täter reflexartig, ohne sich auch nur einen Deut um die Opfer zu bemühen. Zu diesem Kreis gehören namhafte Politikerinnen, Dichter und Denker. Kriminologen nennen es auch „Neutralisierungsstrategien“, wenn Prozesse verhindert und die oftmals traumatisierten Opfer nicht gehört werden. Wie 1999, als zwei Altschüler offiziell ihren ehemaligen Direktor anklagten, kam es zu keiner substanziellen Verfolgung, sondern zu Banalisierungen. Wie immer: Opfer müssen sich meist sieben Mal das Herz fassen, um die Taten zu benennen, bis sie endlich Gehör finden! Ein  Horrorszenario, zu welchem traumatisierte Menschen nur selten fähig sind!

Christian Füller hat ein Buch über das Versagen von Mitmenschen vorgelegt, von Institutionen. Jedes Mitglied einer Institution sollte es als Lehrstück lesen, auch jedes Elternteil und jeder Erzieher.