Hörfunk - Nur Krimis beschäftigt die Seele

Nur Krimis beschäftigt die Seele

Von Astrid von Friesen

Politisches Feuilleton, Deutschlandfunk

Kriminalromane und Fernsehfilme, längst nicht mehr die Psychiatrie, würden sich den Schattenseiten von Gefühlen und Realität widmen und dadurch wahre sozialpolitische Aufklärung leisten, meint die Dresdner Trauma-Therapeutin Astrid von Friesen.

 

Die Naturwissenschaften haben gewonnen! Denn die Tiefen, Untiefen und Verwirrungen der hoch komplexen menschlichen Seele zu enträtseln, ist aus der Mode gekommen.

 

Bis in die 1980er Jahre diente Sigmund Freuds Lehre dazu, Gefühle immer besser zu verstehen. Seither werden psychisch kranke Patienten eher wie Angestellte behandelt: Zielvorgaben werden festgelegt und abweichendes Verhalten analysiert. Es wird erwartet, dass sich ein Krankheitsbild in möglichst kurzer und absehbarer Zeit positiv verändert.

 

Die Betroffenen, die Angehörigen und das Pflegepersonal wissen jedoch schmerzlich, dass dies oftmals lange, manchmal jahrelang dauert. Betriebswirtschaftliche Maßgaben lassen das Humane, die Unwägbarkeiten der Seelennöte, die Zuwendungen um der Wirtschaftlichkeit willen verloren gehen.

 

Psychoanalyse wurde aus Therapien und Psychiatrien verdrängt

 

Aus Therapien und Psychiatrien wurden die tieferen Erkenntnisse der Psychoanalyse verdrängt. Von den Krimis, der beliebtesten und millionenschweren Sparte des Buchmarktes und Fernsehunterhaltung, dafür umso selbstverständlicher aufgenommen.

 

Im "Tatort", dem sonntagabendlichen Familien-Lagerfeuer-Ritual, verarbeiten die Autoren variationsreiche Facetten von beschwerter Kindheit, fatale Folgen von Familienzerstörungen, die Weitergabe von Erfahrungen aus Migration, mangelnder Bildung und  familiärer Gewalt über Generationen. Auch die diffizilen Erkenntnisse der Trauma-Folgen oder der Forensik werden erstaunlich zeitnah aufgegriffen.

 

Drehbuchschreiber führen ihrem Millionenpublikum gesellschaftliche Tabus vor Augen, wie weibliche Gewalt gegen Kinder und Männer, Gewalt innerhalb von Minderheiten oder Gewalt gegen Alte und Kranke.

 

"Tatort" klärt allwöchentlich sozialpolitisch auf

 

Auch die Schattenseiten des Unternehmertums werden nicht ausgespart, wenn es um Sex, Drugs, Geldwäsche oder Leiharbeiter geht. Oder kommunale Kungeleien, parteiinterne Intrigen und Misswirtschaft bis hinauf zur EU, also ungezählte Aspekte, die politisch verdrossen machen. Man könnte sagen: im Krimi findet sozialpolitische Aufklärung statt!

 

Polizisten und Detektive bezahlen einen hohen, persönlichen Preis dafür, dass sie stellvertretend für Politik, Psychiatrie und Gesellschaft mit einer schmutzigen Realität umgehen. Denn die dargestellten Ermittler haben gescheiterte bis gar keine menschlichen Beziehungen. Folglich ist es nur logisch, dass die skandinavischen Kriminalchefinnen mittlerweile als robotergleiche Autistinnen dargestellt werden.

 

Um die Spannung hoch zu halten, wird natürlich erst jeweils am Schluss der Mörder entlarvt. So werden in eineinhalb Stunden bzw. auf 500 Seiten viele Charaktere derart differenziert gezeichnet, dass sie den Zuschauern den Spiegel vorhalten, weil in jedem von uns die Veranlagung zum Bösen oder zum Wahnsinn steckt.

 

Krimis machen Alltagswissen aus Erkenntnissen der Psychoanalyse

 

Kurzum: In den Krimis darf sich das Unbewusste, welches aus den Psychiatrien vertrieben wurde, in voller Blüte zeigen. Weswegen jeder Zuschauer und Leser sich mehrfach in der Woche mit der eigenen gestörten Seele beschäftigt – in der beruhigenden Gewissheit des Märchens, dass Gerechtigkeit wieder hergestellt wird.

 

Die Detektive sind somit als Identifikationsfiguren und als unsere Schutzengel unterwegs, wenn auch phasenweise hilflos, ratlos und verwirrt ob der schrecklichen Lage, ob all dem, was unsere Gesellschaft stört und ängstigt.

 

Analytikerwissen ist nach 100 Jahren also zum aufgeklärten Alltagswissen geworden, um die Motive aller Beteiligten eines Ereignisses besser zu verstehen. Bezogen auf die politische Ebene lässt sich hinzufügen, dass der "Tatort" gehaltvoller, weil auch emotionaler als vieles Politikergerede den Glauben an die Staatsgewalt aufrechterhält, denn die Mörder werden stets überführt und bestraft.